CORVETT FÜR ANNETTE
„Komm gerne vorbei, wenn du in der Gegend bist!“„Mach’ ich, bis dann!“
Dahingesagt beides, vielleicht auch ernst gemeint, sie weiß es nicht.Schreibe über etwas, worüber du noch nie geschrieben hast - lautet die Schreibaufgabe. Also steht sie jetzt hier vor seiner Werkstatttür. Sie klopft, hört nichts, klopft wieder. Sind da Schritte auf der anderen Seite der Türe? Eindeutig ja, und sie kommen näher.
Die Tür wird von innen geöffnet, auch der äußere Riegel schiebt sich wie von Geisterhand zur Seite und er steht vor ihr.
„Hi, da bist du ja, komm rein!“
„Hallo, ja, da bin ich.“
Sie schließt die Tür hinter sich und betritt die geräumige Halle. Direkt links neben ihr steht ein mannshoher Getränkekühlschrank, nur seine Glastüre trennt sie von einem reichhaltigen, ausgesuchten Biersortiment, unten hinten im Eck auch einige verlorene Wasserflaschen.
An der einen Längsseite des Raumes unterhalb der Fensterreihe sieht sie großzügige Arbeitsflächen, gegenüber und an der Stirnseite eingepasste Hochregale, gefüllt mit Ersatzteilen und Werkzeugen, von Akkuschrauber bis Zentrierbohrer, von Amboss bis Zieheisen - hier fehlt nichts.
Und in der Mitte der Halle die Offenbarung in Targa-blue-metallic, ein schimmernder Traum, unwirklich schön.
Schon beim ersten Blick hat sie die runden Rücklichter erkannt, und ihr Atem stockt einen kurzen Moment. „Wow, das ist ja der Hammer!“
Er grinst. „Ja, ganz cool, die Kiste, aber viel Arbeit.“
Ehrfürchtig nähert sie sich dem Wagen: „Darf ich sie anfassen?“
„Klar doch.“
Vorsichtig streicht sie über die makellose Lackierung der Tür und hält bei den versenkten, mit Chrom verblendeten Türgriffen inne. Vor ihr steht eine Corvette C3, Baujahr 1972, der Schriftzug „Stingray“ glänzt silbern rechts unten zwischen Vorderrad und Seitenkühler auf dem Kotflügel. Zierliche, verchromte Stoßfänger vorn und hinten bilden Anfang und Ende einer Liebeserklärung an die klare Form: über die gesamte Länge von 4,50m kein einziger Schnörkel, kein Knick, keine überflüssige Kurve im Blech, nur glatte, metallisch-glänzende Fläche.
Die flache Schnauze, die Schlafaugen-Scheinwerfer - im Stand natürlich geschlossen - die fetten Reifen und die Krönung: zwei getrennt herausnehmbare Dachteile aus Plexiglas mit eigener Ablage unter der Heckklappe.
Der Innenraum ist noch leer, keine Sitze, keine Armaturen, dafür neue Isolierung, neue Leitungen, neue Bodenbleche.
„Wo sind die Scheibenwischer?“, fragt sie.
Er grinst. „Gute Frage!“, sagt er und tippt leicht an eine bewegliche Blechleiste vor der Frontscheibe. Diese kippte um 90° nach oben und gibt den Blick frei auf die versenkten Scheibenwischer.
„Willst du noch mehr?“
Sie nickt nur und sieht zu, wie er die Motorhaube öffnet, darunter ein V8 Motor mit sagenhaften 7,4 Litern Hubraum, im Jargon Big Block genannt.
„Wie viele PS?“, fragt sie.
„Genug.“
„So geil!“
„Yup“, sagt er.
Sie sieht zu ihm auf. Sein Blick geradeheraus, keine Schnörkel, die blauen Augen hat er von seinem Vater. Die englische Bezeichnung Godchild gefällt ihr. Ein Kind vor Gott oder von Gott? Beides o.k. Viel Wortloses, auch das ist Familie.
„Komm wieder!“, sagt er.
„Worauf du dich verlassen kannst!“, sagt sie.