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ELKE

„Na, denn Prost!“, sagte der Tankwart und gab ihr 35 Cent zurück. Elke zuckte zusammen, brachte mühsam ein leises: „Danke“ hervor und wandte sich eilig ab. In der einen Hand die Flasche Korn, in der anderen das Geld. Sie spüre die aufsteigende Scham und verließ fluchtartig die Tankstelle. Immer wieder hatte sie sich geschworen, nie mehr dorthin zu gehen und immer wieder geschah es doch.

Etwas in ihr war stärker als jeder Wille, als jeder Vorsatz und als alle Vernunft. Sie fühlte sich schlecht, sie wusste, was jetzt kommt. Sie würde in ihre Wohnung gehen und sie würde trinken, Schluck für Schluck trinken, so lange, bis die Flasche leer war, sie würde ins Bett torkeln, sich schämen und einschlafen mit dem festen Vorsatz, es morgen nicht mehr zu tun…  

 

Einhundertvierunddreißig Tage war sie trocken gewesen, fast ein halbes Jahr, die längste Zeit in mehr als 20 Jahren. So lange schon? Ja, so lange schon. Wenn sie ehrlich war, noch länger. Schon als ganz junge Frau gab es kaum einen Tag ohne Alkohol in ihrem Leben, aber erst seit etwa 20 Jahren war ihr klar, dass das ein Problem war. Ein gewaltiges Problem. Es gab Tage, da war die Scham so groß, dass sie das Haus nicht verlassen konnte, nur niemandem begegnen, nur keine Fragen beantworten müssen. 

„Ich werde es schaffen“, sagte sie sich immer wieder und manchmal glaubte sie es auch. Heute nicht, zu tief war sie schon wieder hinein geraten in die allzu vertraute Spirale aus Unruhe, Angst und Traurigkeit, die immer und immer wieder die gleichen Kreise zog: nur ein wenig Beruhigung, nur etwas lockerer werden, nur einmal gut und tief schlafen, dann würde es wieder ohne gehen - es ging nicht ohne und sie wusste das und sie hasste sich dafür, dass sie den Kampf immer auf´s neue verlor. 

 

Es war nicht weit von der Tankstelle zu ihrer Wohnung. Während sie die wenigen Meter zurücklegte, spürte sie die Vorfreude auf den erlösenden ersten Schluck und gleichzeitig nahmen der Hass und das Hadern zu. Warum ich? Warum immer wieder? Warum schaffe ich es nicht? Warum bin ich ein solcher Versager? Ihre Gedanken waren so eindimensional wie die Handlungen, die jetzt folgten. Es gab nur zwei Plätze, die in Frage kamen: der Küchentisch und das Sofa - meist war es der Küchentisch. Warum eigentlich? Weil sie früher einmal gelernt hatte, dass Essen und Trinken am Tisch stattfinden? Weil sie immer noch ein wohlerzogenes Mädchen war, trotz all der Sprünge, die der Lack inzwischen hatte? Weil es dem Ganzen einen Rest von Normalität gab: eine Frau sitzt am Tisch, trinkt aus einem Wasserglas und liest in der Zeitung - so etwas geschieht jeden Tag hunderttausendfach in dieser Stadt, warum nicht auch in ihrer Küche? Ganz normal, ganz harmlos… So könnte es sein, wenn in dem Glas denn Wasser wäre…

 

Sie gießt das erste Drittel der Flasche ins Glas. Der erste Schluck ist widerlich wie immer, brennt in ihrem Rachen und ihrer Speiseröhre und erst als er den Magen erreicht und sich kurz darauf das bekannte, wohlig-warme Gefühl unter das nachlassende Brennen mischt, atmet sie hörbar auf und setzt sich hin. Draußen ist es inzwischen dunkel, von ihrem Platz aus kann sie den Abendhimmel sehen. Eigentlich müsste wieder aufstehen und das Licht einschalten, um noch etwas lesen zu können, doch sie kennt das, was nun kommt zu gut. Die Zeitung liegt nur da, gelesen wird sie schon lange nicht mehr. Mit dem zweiten Schluck lässt der Hass schon ein wenig nach. Was ist so schlimm daran? Ich tue niemandem weh, ich lebe alleine, bin für niemanden verantwortlich, mache zuverlässig meine Arbeit. In mehr als dreißig Jahren habe ich keine vier Wochen gefehlt, ohne mich könnten sie die Verwaltung dicht machen. Heute werde ich nicht die ganze Flasche trinken, nur dieses eine Glas und dann gehe ich früh schlafen und morgen bin ich fit und guter Dinge.

 

Bis sie nachschenkt, glaubt Elke fest an diese Möglichkeit - dann nicht mehr. Sie denkt angestrengt nach, wann das noch ging - aufhören, so lange noch ein Tropfen da ist - und ist sich nicht sicher. An Rainer´s fünfzigstem Geburtstag war ich nicht betrunken, das weiß ich hundertprozentig! Oder war es der Vierzigste? Was heißt überhaupt betrunken? Ich pöble niemanden an, habe keine Schlägereien, fahre nicht besoffen Auto, warum soll ich nicht entspannt hier sitzen und die paar Schlucke genießen? Es interessiert doch eh´ keinen. Wann kam das letzte Mal jemand zu Besuch? Wann hat zuletzt jemand angerufen? Seit Mutter gestorben ist, meldet sich Rainer nur noch zum Geburtstag, wahrscheinlich hat sie ihn vorher immer aufgefordert, mich mal wieder anzurufen. Ist auch egal, ich weiß eh´ nicht, was ich mit ihm reden soll. Sein Familienidyll und der Golfclub und die Firma und dass vielleicht bald der erste Enkel kommt - ich kann es nicht mehr hören. Nicht ein Mal in all den Jahren hat er mich gefragt, wie es mir geht. Ob ich klar komme so alleine in der Stadt. Ob ich mich wohl fühle mit meiner Arbeit… Nie, nichts. Und das soll ein Bruder sein?

 

Das Brennen ist inzwischen verschwunden und hat einer angenehmen Wärme Platz gemacht, ihre Schultern fühlen sich entspannt an und sie stützt den Kopf auf, um besser aus dem Fenster sehen zu können. Der dunkel Himmel spiegelt die Lichter der Stadt, sie mag diese Tageszeit und zugleich ist diese Stunde der Eingang zur Hölle. Tagsüber hat sie sich im Griff, fast immer. Noch nie hat sie während der Arbeitszeit getrunken und nur selten tagsüber am Wochenende, zu groß war die Angst, erwischt zu werden und das Bemühen, einen Rest Normalität aufrecht zu erhalten. Aber die blaue Stunde ist ihr Waterloo, so als würde all ihre Widerstandskraft mit der Sonne sinken und zurück bliebe ein ungeliebtes, einsames Mädchen, dass jede Flasche Hochprozentiges auf´s Innigste willkommen heißt: „Mach mit mir was du willst, alles ist besser als dieses Verlangen und diese Einsamkeit!“

 

Nachschenken während das Glas noch nicht ganz leer ist, ist eine der unzähligen Strategien des Selbstbetrugs, die Elke im Laufe der Jahre perfektioniert hat: „Wieso vier Gläser? Das war doch jedes Mal noch mindestens halb voll, das sind nicht einmal Zwei!“. 

Mit ihrer Mutter hatte sie solche Diskussionen oft geführt. Vor etwa 15 Jahren hat Gerda zu ersten Mal gesagt: „Ich muss mal mit dir sprechen, Elke!“. 

Irgendwie hatte sie es geschafft, dieses Gespräch dann noch einige Monate zu verhindern, aber ihre Mutter war eine entschlossene Frau und so kam der unvermeidliche Moment, an dem sie mit ihr an eben diesem Küchentisch saß und Gerda ihr ohne Umschweife ins Gesicht sagte: „Elke, du solltest uns nicht alle für blöd halten. Du denkst, wir merken nicht, was mit dir los ist, aber du irrst dich. Gut, Rainer hat viel um die Ohren mit seiner Firma, aber ich bin deine Mutter und mir machst du nichts vor.“ 

Natürlich stritt Elke alles ab, redete von Stress und viel Arbeit und einem gelegentlichen Drink zu Entspannung, und in diesem ersten Gespräch ließ ihre Mutter sich davon noch einwickeln, am Ende schien sie ihr wirklich zu glauben, dass es sich nur um eine vorübergehende Episode handle. 

Als sie etwa ein Jahr später wieder sprachen, fiel ihr Gerda schnell ins Wort: „Erspare dir und mir diese unwürdigen Lügen! Du trinkst und du weißt es, und ich will wissen, was du dagegen tun wirst?“ 

Auch an dieses zweite Gespräch erinnerte sich Elke sehr gut, besonders daran, dass die Mutter ihre damalige Lage eiskalt ausgenutzt hatte: Elke war zwei Tage zuvor bei dem Versuch, in eher schlechtem Zustand schnellstmöglich die Toilette zu erreichen, auf den Badewannenrand gestürzt und hatte sich dabei zwei Frontzähne abgebrochen. 

Immer, wenn sie zu einer Rechtfertigung anhob, sagte Gerda nur: „Schau dich doch an! Schau doch einfach in den Spiegel und hör auf, mir diesen Unsinn zu erzählen!“

 

So kam es, dass Elke tatsächlich zum ersten Mal in ihrem Leben eine Suchtberatungsstelle aufgesucht hatte. Die junge Psychologin, mit der sie dort sprach, kam schnell zu dem Schluss, dass eine weiterführende Behandlung nicht zwingend erforderlich sei und war auch bereit, ihr das schriftlich zu geben. Natürlich hatte Elke sich vorher die Zähne richten lassen und natürlich hatte sie drei Tage vor dem Termin nichts mehr getrunken. 

In ihrer Genugtuung, mit der sie das Schreiben wenige Tage später ihrer Mutter zeigte, übersah sie die Tränen in Gerda´s Augen. In allen weiteren Gesprächen konnte sie sich stets auf die fachlich bescheinigte Unbedenklichkeit ihres Trinkverhaltens berufen und machte weidlich Gebrauch davon. Irgendwann gab ihre Mutter auf, genauso wie Klaus, der Nachbar aus dem dritten Stock, mit dem sie sich vor einigen Jahren einige Male verabredet hatte. Seine beharrliche Art gefiel ihr und auch sein Humor, doch der schien ihm schnell abhanden gekommen zu sein: „Du wirst dich umbringen, wenn du so weiter machst“, sagte er irgendwann und dann kam er nicht mehr. 

 

Eine weitere Strategie sind die kleinen Rechenaufgaben, die Elke leise vor sich hin murmelt, während sie sich das Glas erneut voll schenkt: „Drei mal sechs ist achtzehn, vier mal sieben ist achtundzwanzig, fünf mal vier ist zwanzig…“. 

Solange ich noch fehlerfrei rechnen kann, kann ich ja wohl nicht betrunken sein, versichert sie sich selbst und nicht anwesenden möglichen Kritikern ihres Verhaltens. Was sie nicht erwähnt, ist dass die auswendig aufgesagten Zahlenreihen immer die gleichen sind und schon lange keiner Überlegung mehr bedürfen. 

 

Langsam zieht sich ein Schleier über ihr Gedächtnis und das Nachdenken über ihre Mutter und die unangenehmen Gespräche erscheint ihr zunehmend mühsamer. Wozu auch? Gerda ist seit fünf Jahren tot - oder sind es schon sechs? Und ihre Meinung interessiert keinen mehr. 

„Eines Tages werde ich es schaffen“, denkt Elke, während sie einen großen Schluck nimmt, „eines Tages werdet ihr alle sehen, was in mir steckt.“ 

 

Während dieses Sommers hat sie eine lange Pause eingelegt - zum ersten Mal nach vielen Jahren. Wenn sie nur wüsste, wie ihr das gelungen ist - einhundertvierunddreißig Tage. Immer wieder hängt sie in Gedanken an dieser Zahl. Wer das schafft, kann kein Alkoholiker sein. Einhundertvierunddreißig Tage! Ihr Leben hat sich völlig anders angefühlt, die Tage waren viel länger, sie hörte die Vögel im Park wieder singen und hat sich ein neues Kleid gekauft und wenn sie in den Spiegel sah, war da kaum Ekel und Scham sondern ein eigentümlich fremdes Gefühl der Neugierde auf die Frau, die ihr da entgegen blickte: Wer bist du? Was tust du hier? So nüchtern kenne ich dich gar nicht…

In den ersten vier oder sechs Wochen war sie extrem mißtrauisch und kritisch mit sich gewesen: jede Minute hätte der Rückfall kommen können und sie wusste, sie war machtlos dagegen. Je länger er nicht kam, desto erstaunter war sie und irgendwann kippte dieses Erstaunen in Richtung Zufriedenheit und bekam noch etwas später eine leise Note von Selbstgefälligkeit: „Wenn ich es fünfzig Tage schaffe, dann kann ich es auch ein Jahr lang schaffen oder zwei.“ Zuerst erschrak sie vor derartig überheblichen Überlegungen, doch irgendwann, vielleicht nach 70 oder 80 Tagen fühlte sie sich mehr und mehr sicher: „Ich habe es geschafft! Mein Wille ist stärker als die Sucht, sie hat mich nicht mehr im Griff! Ich habe es wirklich geschafft! Und ganz ohne Hilfe, nur mit meiner Willenskraft!“  So gut hatte sie sich Jahre lang nicht gefühlt. 

Der Gedanke an dieses Lebensgefühl in den letzten Tagen ihrer Abstinenz verursacht ihr einen tiefen Schmerz. Ein waidwundes Reh kommt ihr in den Sinn, wie es da liegt, blutend aus einer tödlichen Wunde, die letzten Atemzüge panisch, die Augen starr  - nicht auszuhalten, dieser Schmerz ohne einen Schluck - und auch das dritte Glas geht zur Neige. Sie gießt den letzten Rest aus der Flasche dazu. 

Es war am Samstag gewesen, ihr Bruder hatte angerufen, und sie hatten eines ihrer nichtssagenden Telefonate geführt und sie hätte ihm so gerne sagen wollen, wie glücklich sie war und wie stolz. Einhundertvierunddreißig Tage! Sie sagte nichts, natürlich nicht. Man kann nicht 20 Jahre lang abstreiten ein Problem zu haben, um dann stolz zu verkünden, dass man es jetzt nicht mehr hat. Sie sagte wie immer nichts, und Rainer erzählte wie immer von seiner Firma und als sie auflegte und wieder mit sich alleine war, da überfiel sie die Leere und die Einsamkeit mit einer Intensität, die ihr den Atem nahm. Sie spürte die Welle des Verlangens anrollen und wappnete sich dagegen mit allen Strategien, die sie kannte. Sie ging unter die Dusche, cremte sich sorgfältig ein, trank drei Gläser kaltes Wasser, schaltete den Fernseher ein, um sich abzulenken, verbot sich das Haus zu verlassen, solange die Geschäfte noch offen hatten… 

Nach vier Stunden war sie soweit. Elke ging zur Tankstelle und kaufte eine Flasche Wein. Eine Stunde später holte sie sich die Zweite… 

Der Hass war schwarz und kalt. Als sie am nächsten Morgen erwachte, schob sich der Vorhang ihrer Erinnerung nur langsam auf. Sie lag auf dem Boden vor ihrem Bett. Warum hatte sie sich nicht hinein gelegt? Warum trug sie ihre Schuhe noch? Warum lag ihr Geldbeutel zu ihren Füßen? Der erste Versuch, sich aufzusetzen scheiterte kläglich, zu schwach, zu benommen, zu angewidert von ihrem Zustand war sie. Ein lebendiges Stück Dreck - stinkend, verschwitzt, verwundet.

Einfach liegen bleiben. Sich nicht bewegen, nicht nachdenken. Vielleicht ist das alles nur ein Alptraum und heute ist der einhundertfünfunddreißigste Tag einer langen Reihe guter Tage. Nichts ist geschehen, gleich klingelt der Wecker und alles ist gut…

Nichts war gut und mehr instinktiv als wissend war ihr klar, warum sie lag wo sie lag und was gestern geschehen war. Sie schaffte es, sich auf den Bauch zu drehen, irgendwie die Knie anzuziehen und ihren Oberkörper auf das Bett zu hieven. Die Übelkeit kam schnell, zu schnell. In kurzen, quälenden Stößen entleerte sich ihr Magen auf die Bettdecke und inmitten dieses säuerlichen Geruchs von halbverdauten Käse- und Tomatenstücken kam ihr in den Sinn, wie sie zu der dritten Flasche Wein beschlossen hatte, eine Käseplatte anzurichten. Sie hatte am Tisch gesessen, ganz normal, ein Schluck Wein und ein paar Käsehäppchen, was ist schon dabei? Als der Käse alle war, hatte sie die vierte Flasche aufgemacht. Na und? Wen interessiert das? Sie versuchte erneut, aufzustehen und diesmal schaffte sie es, auf die Beine zu kommen. Unsicher stützte sie sich am Bettpfosten ab, dann an der Wand entlang zu Badezimmertüre, zum Waschbecken. Welche Wohltat, das kalte Wasser im Gesicht zu spüren! Den scheußlichen Geschmack auf der Zunge los zu werden… 

Und dann kam der Moment, in dem Elke sich aufrichtete und ihrem Blick im Spiegel begegnete. Da war keine Neugierde mehr, da waren Scham und Ekel, ihre alten Weggefährten und der Hass war eiskalt. So kalt, dass die lange, heiße Dusche sie genauso wenig wärmte wie der heiße Kaffee danach. Sie säuberte ihr Bett und legte sich hinein, das leise aufsteigende Verlangen ignorierend. 

Nein, ich werde nicht trinken. Das war eine einmalige Sache. Ich werde es nicht wieder tun. Ich bin nicht abhängig. Nach einer Weile fiel sie in einen unruhigen Schlaf, als sie aufwachte, dämmerte es draußen schon. Irgendwie ging auch dieser Tag vorbei. Sie stand auf, ging eine Weile in ihrer Küche auf und ab, nahm ein Buch zur Hand, legte es wieder hin, schaltete den Fernseher ein und schaltete ihn wieder aus, setzte sich an den Tisch und schlug die Zeitung auf, nur um sie wenig später wieder beiseite zu legen. Als sie aufstand und sich den Mantel anzog, dachte sie kurz an ihre Mutter, dann ging sie über die Straße zur Tankstelle.

„Na, denn Prost!“, sagte der Tankwart und gab ihr 35 Cent zurück…  

 

„Morgen“, denkt sie später im Einschlafen, „morgen werde ich es schaffen…“.

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