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„Nach unten?? Nach minus 19??“ 

„Ja, wir fahren nach Minus 19!“ 

„Ich habe noch nie gehört, dass es ein derartiges Stockwerk gibt in diesem Gebäude. Warum so weit unten?“ 

„Manche Dinge sind tief unter der Erde an der richtigen Stelle. Es ist besser, wenn man die Geräusche im Rest des Gebäudes nicht hört.“ 

 

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Konkurrenz war noch immer ein Thema. Selbst in der KI-dominierten Gesellschaft des 23. Jahrhunderts war diese alberne menschliche Besorgnis, ob der/die/das eine oder andere vielleicht Bevorzugung oder Begünstigung hier oder da erfährt, noch immer nicht vollständig aus der Programmierung der Humanoiden eliminiert. 

Auch 9X1c hatte seine Erfahrungen damit gemacht. Die Bevorzugung von Lila72v3 hatte ihm manch ruhelose Nacht bereitet und seinen Energieverbrauch erhöht, was bei den wöchentlichen Inspektionen natürlich aufgefallen und negativ in seiner Leistungsbilanz erschienen war. 

Umso erfreuter, fast ungläubig war er, vor wenigen Wochen die Nachricht: „Dienstantritt in Gebäude B17-24 zum nächsten Poly-Term-Start. Neue Aufgabe: Intramuraler Probentransport“  in seinem Close-Future-Display zu lesen. In Gebäude B17-24 arbeiten war der Traum aller Humanoiden: gemeinsam mit ausgewählten Intelligenzen wurden hier die Hybride der Zukunft gestaltet, erzählte man sich im Bergwerk. Hier wurden die Weichen gestellt für das langfristige Überleben der neuen Mischwesen, die seit dem Aussterben der Menschen im 21. Jahrhundert die Erde bevölkerten. Und er war hier angekommen, sein Traum hatte sich erfüllt. Die neue Lebenslaufzeile: „Von 2356 - 2386: Pionier und Abraum-Ameise Lithium-Bergwerk 43a19“,  auf  seinem Important-Live-Event-Monitor (ILE-M) ordnete die Bergwerkjahre endgültig der Vergangenheit zu. 

Jetzt waren auch für ihn endlich die goldenen Zeiten ruhiger Tage und erholsamer Nächte nahe am Zentrum der Macht gekommen. 

Den Prozessor für humane Gefühle hatte er vor zehn Jahren im Rahmen einer Kernsanierung erhalten, die  Zeit davor bestand rückblickend nur aus Fakten. Einige der menschlichen Emotionen waren angenehm, wenn er z.B. den Regler „Freude“ nach oben fuhr, fühlte er sich heiter und leicht und beschwingt und manchmal machte es ihm dann sogar Spaß, in kleinen Kurven über die Gänge zu schweben. Andere, wie Hass oder Angst hatte er nur ein einziges Mal ausprobiert und war froh, dass er sie sofort wieder abstellen konnte, sie fühlten sich so kalt, so beklemmend und unheimlich an. 

Nach einer kurzen Phase neugierigen Experimentierens hatte er sich - im Rahmen der ihm erlaubten Modifikationen der Grundeinstellung - auf eine gut bekömmliche Mischung von jeweils 10% Freude, Neugier, Fleiß und Motivation mit 40% Durchhaltevermögen und 20% Gesunder-Menschenverstand programmiert, letzteres eine Hybrid-Einstellung, von der er zu gerne die einzelnen Bestandteile gewusst hätte. Damit war er im Bergwerk gut zurechtgekommen und dachte darüber nach, im Rahmen des bevorstehenden Jahres-Check-ups mit seinem Wartungsroboter zu besprechen, ob diese Grundeinstellung auch hier im Gebäude B17-24 die richtige sei oder eine Modifikation brauche. 

„Jetzt aber erst einmal in den 24. Stock und die Proben abliefern.“ Der Aufzug war inzwischen eingetroffen und die Türe öffnete sich automatisch. „Bitte treten Sie ein!“, sagte eine freundlich klingende Automatenstimme. 9X1c folgte ihrer Aufforderung und sein Stimmprozessor generierte ein ebenso freundliches: „Probentransport zum Labor im 24. Stock, bitte“. Die Aufzugtür schloss sich hinter ihm und er erwartete die übliche Begrüßung der Stimme auf der Fahrt nach oben. Doch alles blieb still. Der Aufzug bewegte sich nicht. 

Sein Close-Future-Display (CFD) signalisierte einen Message-Eingang: „Willkommen auf der Endstrecke! Die Macht wird Ihr System einem Recycling-Prozess zuführen, es dazu in seine Einzelteile zerlegen und diese - soweit noch intakt und zeitgemäß - einer technischen Wiederverwertung zuführen. Da Sie bereits mit einem Prozessor für humane Gefühle ausgestattet sind, wird das Verfahren für Sie mit unangenehmen Empfindungen verbunden sein. Wir bedauern dies und bitten um Entschuldigung. Der Aufzug wird sich in Kürze in Bewegung setzen. Wir erwarten Sie in Stockwerk Minus 19, genießen Sie Ihre letzte Fahrt.“ 

„Letzte Fahrt? Wie? Warum? Was soll das? Das muss ein Irrtum sein!“ 9X1c drehte sich um seine Achse. Ich muss mit den Proben in den 24. Stock. Mein System zerlegen? Wieso mein System zerlegen? Was denn bitte wiederverwerten? Ich funktioniere doch bestens. Derartig unlogische Sätze hat das CFD noch nie angezeigt. Das kann nur ein technischer Defekt sein.“  Sein Sprachprozessor wiederholte die Aufforderung: „Probentransport zum Labor im 24. Stock, bitte!“, dieses Mal mit mehr Nachdruck und weniger Freundlichkeit im Ton. Alles blieb still. Der Aufzug bewegte sich nicht. 

Seine Prozessoreinheit (PE) Gesunder-Menschenverstand schaltete sich ein: „Dies ist keine freundliche Umgebung, Dir droht Gefahr, verlasse diesen Aufzug!“  Zum ersten Mal erlebte 9X1c etwas, dass in seinem Lern-Speicher menschlichen  Verhaltens als „Dilemma“ beschrieben wurde: Er war geneigt, der Empfehlung der PE Gesunder-Menschenverstand zu folgen, aber sie stand in klarem Widerspruch zu seinem Arbeitsauftrag. 

Als Arbeitshumanoid Erster Klasse war er zu ethisch-moralischen Entscheidungen, wie solche Situationen im Menschenzeitalter genannt worden waren, nicht befugt. Sein Stimmprozessor wiederholte daher erneut: „Probentransport zum Labor im 24. Stock, bitte!“. Auch diesmal blieb alles still. Der Aufzug bewegte sich nicht. Statt dessen eine neue Nachricht im CFD: „Bleiben Sie gelassen! Der Aufzug wird sich in Kürze in Bewegung setzen. Wir erwarten Sie in Stockwerk Minus 19, genießen Sie Ihre letzte Fahrt.“ 

„Nach unten?? Nach Minus 19??“, fragte 9X1c ungläubig. 

„Ja, wir fahren nach Minus 19!“, hörte er die automatisierte Stimme aus dem Lautsprecher des Aufzugs. „Ich habe noch nie gehört, dass es ein derartiges Stockwerk gibt in diesem Gebäude. Warum so weit unten?“. 

„Manche Dinge sind tief unter der Erde an der richtigen Stelle. Es ist besser, wenn man die Geräusche im Rest des Gebäudes nicht hört.“, gab die Stimme freundlich zur Antwort. 

Der Aufzug bewegte sich noch immer nicht. Über seine Audioprozessoren nahm 9X1c ein neues Geräusch wahr: „Klassische Musik: Antonín DvoÅ™ák, Symphonie Nr. 9, Aus der neuen Welt, 2. Satz, Largo“, meldete das Umweltanalysemodul. Dieses Mal kam die Reaktion der PE Gesunder-Menschenverstand unverzüglich und mit einer nie erlebten Heftigkeit: „Das ist Dein Ende, wenn Du Dich nicht wehrst! Du musst hier raus! Sofort! Verlasse sofort diesen Aufzug, Deinen Arbeitsauftrag kannst du später klären!“ 

Der Aufzug setzte sich langsam und lautlos in Bewegung. „Jetzt wird alles gut, ich fahre in den 24.Stock und liefere endlich meine Proben ab“, dachte 9X1c, doch sein Bewegungssensor meldete eine andere Fahrtrichtung. Langsam schwebend senkte sich der Aufzug nach unten, im Display neben der Türe erschien die Zahl des eben erreichten Stockwerks in leuchtendem Rot: - 2, - 3,…

Und wieder meldete sich die PE Gesunder-Menschenverstand: „Tu etwas! Versuche den Aufzug zu stoppen! Du musst hier sofort raus!“. - 4, - 5,…
Das Umweltanalysemodul meldete ansteigende Raumtemperatur. - 6, - 7, - 8… Über diese unterirdischen Stockwerke hatte noch nie jemand gesprochen. Wie konnte es sein, dass er nichts von ihrer Existenz wusste? Dass er noch nie jemanden getroffen hatte, der von hier wieder nach oben gekommen war?
- 9, - 10, - 11…,  das Display des Umweltanalysemoduls blinkte im Modus: „Warnstufe 1“, die Anzeige meldete 42°C Raumtemperatur. Das Close-Future-Display kündigte einen möglichen  temperaturbedingten Dioden-Schaden mit unklaren Auswirkungen auf sein Gesamtsystem an. - 12, -13, - 14… Die Aufzüge funktionierten mit Stimmsteuerung, erneut versuchte er, der falschen Fahrtrichtung Einhalt zu gebieten: „Stopp! Probentransport zum Labor im 24. Stock!!“. 

Doch unaufhaltsam ging es weiter nach unten. -15, - 16…, die Raumtemperatur war inzwischen bei 45°C angelangt, das Largo lief noch immer, schien lauter und lauter zu werden. 

Jetzt war der Moment gekommen, etwas Unerhörtes zu tun. 9X1c aktivierte zum ersten Mal in seiner Existenz sein integriertes Survival-Modul und setzte einen Notruf ab. Noch nie in seinen 30 Funktionsjahren war das nötig gewesen, doch jetzt schien es wirklich an der Zeit, die Macht auf einen Systemfehler hinzuweisen. Er wusste, wie kritisch das war, hatte er doch über Jahrzehnte erfahren, dass das System keine Fehler machte. Aber hier und jetzt? Das konnte doch nur ein Fehler sein. Das musste ein Fehler sein! Das Survival-Modul reagierte prompt: „Fehlalarm!  Letzte Fahrt nach  Stockwerk Minus 19 vom System bestätigt“.
Gleichzeitig signalisierte sein Important-Live-Event-Monitor: „Keine weiteren Lebensereignisse zu erwarten“. 9X1c verspürte trotz des quasi abgeschalteten Angstreglers ein unangenehm kaltes, beklemmendes Gefühl, welches drohte, sein Analyse- und Denkvermögen zu beeinträchtigen. „Was heißt das? Wieso bestätigt?? Wieso keine weiteren Lebensereignisse?? Ich will nicht zerlegt werden. Ich will weiter meine Arbeit machen. Alle meine Systeme funktionieren bestens.“  

Der Aufzug kam zum Stillstand, -19 leuchtete rot auf dem Display. Die Musik verstummte und sofort beherrschten andere, nie gehörte Geräusche den Raum: das Quietschen von Transportboxen, das leise Surren von Akku-Schaubern, immer wieder überlagert von dem lauten, schrillen Kreischen einer Flex, die sich durch zerberstendes Metall fraß. Das An- und Abschwellen von Bohrern und dazwischen der vertraute Singsang der Bewegung schwer beladener Roboter-Schwenkarme, unterbrochen von einem lauten Stimmengewirr zahlreicher, ihm fremder Sprachprozessoren: „Nein!!“, „Halt, aufhören!“, „Bitte nicht!!“, „Nein, nicht meine Audioprozessoren!“, „Das muss ein Irrtum sein, bitte nicht, nein, das tut weh!“… 

Die Tür öffnete sich langsam. Der Raum dahinter lag im Dunkeln, vereinzelte Lichtblitze von Schweißelektroden ließen schemenhaft  ein riesig ausgedehntes Gewölbe erahnen. Stickige, heiße Luft erfüllte den Raum. Die Geräusche schwollen zu einer quälenden Lautstärke an, die Sprechlaute darunter klangen panisch, schmerzverzerrt, wütend, manche auch ungläubig-erstaunt. Ein greller Scheinwerfer blendete seine visuelle Wahrnehmungseinheit. 

Angestrengt versuchte er da draußen irgendetwas zu erkennen.  „Zu spät!“, meldete die PE Gesunder-Menschenverstand leise und über sein Umweltanalysemodul nahm 9X1c wahr, wie drei gewaltige Schwenkarme ihn unvermittelt packten und aus dem Aufzug hinein in den Raum der entsetzlichen Stimmen zerrten. 

„Meine Proben! Vorsicht, Sie beschädigen meine Proben! Die müssen zur Analyse in den 24.Stock!“, äußerte sein Sprachprozessor mit erhöhter Lautstärke, doch seine Stimme fand kein Gehör.  Er spürte den Ansatz eines Bohrers an seiner zentralen Steuerungseinheit und alles danach war nur noch Schmerz.

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